
© imago/Gerhard König
“Ich lese schon lange keine Zeitungsartikel mehr”, erklärte mir Ralf zu Beginn unserer Beziehung auf die Frage, wie er mit dem öffentlichen Druck als Profifußballer umgehe. Wöchentlich wurden die Leistungen der einzelnen Spieler in den Zeitungen nach Schulnotensystem – mehr schlecht als recht – bewertet. Selbst wenn die Mannschaft gewann, waren die Noten kaum besser als eine durchschnittliche 3. Verloren sie, waren die Urteile der Presse niederschmetternd. Es kam auch vor, dass ihm ehrgeizige Fussball-Fans Sonntagnachmittag aus dem vorbeifahrenden Auto zuriefen: “Du Penner, trainier’ lieber”. Gingen wir gemeinsam tanzen, war die Wahrscheinlichkeit nicht gering, dass ein anderer Gast Ralfs Amüsement schon am nächsten Morgen den Verantwortlichen des Vereins gemeldet hatte. Wer Fussballer sein wollte, hatte nichts anderes sein zu wollen. Für Ralf war das auch lange genau richtig so.
“Ich muss erst mal etwas Richtiges erreichen, bevor ich mir etwas gönnen kann.”
Als wir uns kennenlernten, war Ralf 24 Jahre alt. Dreiviertel seines Lebens hatte er sich auf Fußball konzentriert. Seine Leidenschaft für den Ball, sein grenzenloser Wille und seine erstaunliche Anpassungsfähigkeit haben ihn bis auf den Rasen des UEFA Cups gebracht. Um im Fußball weit zu kommen, musste er aber vor allem eines lernen: seine (anderen) eigenen Bedürfnisse hinten anzustellen. So gab es kaum ein Familienereignis – die meistens an Wochenenden stattfanden und deshalb mit Punktspielen zusammen fielen – das er miterlebte, ob Geburtstage, Hochzeiten oder Beerdigungen. Stundenlang lesen, Tennis spielen, Zeit mit Freunden verbringen, das Leben ausprobieren, spontan sein: all das wollte er nachholen, wenn er “erst ‘mal etwas Richtiges erreicht” hat.
Das ist ein cleverer Ansatz. Doch Ralf ist Perfektionist. Und ein Perfektionist findet nie perfekt, was er selbst erreicht. Es geht immer noch ein Stück besser, ein Stück weiter, ein Stück perfekter. Fast zwangsläufig erkannte Ralf also eines Tages, dass er es als Fußballer nicht zu etwas Richtigem bringen würde und setzte sich neue, akademische Ziele. Mit dem Abschied aus dem öffentlichen Fußballer-Leben sollte auch der Leistungsdruck abnehmen. Erst einige Jahre später, in seiner Doktorandenzeit, zeigte sich, dass dem nicht so war.
Als Doktorand gab es keine fordernden Trainer, allgegenwärtigen Reporter oder ehrgeizige Fans, die ihre hohen Erwartungen an Ralf regelmäßig publik machten. Trotzdem glaubte Ralf, besser sein zu müssen, als er es aus seiner Sicht war. Der Druck kam allerdings von einem Menschen, den er aus seiner Zeit als Fußballer mit in die Gegenwart genommen hatte: Sich selbst – dem Perfektionisten. Er selbst glaubt, um etwas Richtiges zu erreichen, um perfekt zu sein, fehlten ihm noch viele Fähigkeiten und Erfahrungen. Jede neue Errungenschaft – sein Bachelor, sein Master, seine glückliche Ehe – war nichts Besonderes mehr, sobald er sie selbst erzielte. Seine Vorstellung von etwas Richtigem passte er stets erneut an und schob seine Ziele weiter ins Unerreichbare.
Ich bin so gut, wie ich gerade sein kann.
Ich war bereit, vorübergehend alles (für das Reisen) liegen zu lassen und Ralf war bereit, alles (für die berufliche Entwicklung) aufzunehmen. Mein Bedürfnis aufzubrechen stand in direkter Konkurrenz zu Ralfs Bedürfnis, erst ‘mal etwas Richtiges zu erreichen. Reisen gehörte für ihn nicht dazu. Noch nicht. Auf unserem täglichen Fahrradweg zur Arbeit hatten wir unzählige – teils aufreibende – Gespräche über unsere Träume und Ängste, darüber, wer wir gern sein wollen und über die Bedeutung des Erwachsenseins. Für Ralf hieß Erwachsensein, auf jedes Problem eine Lösung zu wissen, nichts zu befürchten und mit beiden Beinen fest im Leben zu stehen. Hat man das erreicht, darf man eigenen Bedürfnissen nachgehen, sich etwas gönnen. Als Jugendlicher waren es noch die Ü20er, die ihr Leben fest im Griff hatten, später die Ü30er. Zwischenzeitlich hatten wir selbst die 30 überschritten und stellten verlegen fest, dieses “Später”-Sagen nicht ewig fortführen zu können (von der biologischen Grenze mal ganz abgesehen).
Wir hatten schon einiges erlebt und so manches erreicht. Nur würden wir jemals zufrieden sein, jemals gut genug und sogar erwachsen? Oder war die Suche nach dem Perfekten und Richtigen eine ziel- und vor allem eine zwecklose? Ein kluger Mensch hatte uns in dieser Zeit gelehrt, dass wir immer genau so gut seien, wie wir es gerade sein könnten – nicht mehr, aber vor allem auch nicht weniger. Und so sagte Ralf einige Wochen und Gedankenschlaufen später: “Ich glaube, Erwachsensein heißt, im Jetzt Verantwortung für sich und sein Handeln zu übernehmen – auch für den weniger erwachsenen Teil.”
- Diese Karte schenkte ich Ralf zum 30. Geburtstag. Der Spruch wurde ein zentraler Satz in den folgenden Jahren.
Wir begannen also Verantwortung für die Personen zu übernehmen, die wir sind. Wir begannen den Unerwachsenen in uns als Teil des Erwachsenen zu akzeptieren, unsere Fehler nicht als Schande sondern als Möglichkeit uns zu verbessern und unsere inneren Bedürfnisse nicht als etwas Egoistisches sondern als etwas Erstrebenswertes wahrzunehmen. Wir lösten uns gemeinsam von den vermeintlichen Erwartungen unseres Umfelds (fehlerfrei zu sein, eine lückenlose Karriere aufzuweisen, etc.) und wagen es nun, früher aufzuhören, “später” zu sagen und etwas nur für uns zu tun.
Ich glaube, vor dieser Zeit wäre Ralf meinetwegen mit auf unsere Reise gegangen. Seither will er es auch seinetwegen.
Der Weg ist das Ziel (Abgedroschen und dennoch wahr)
In 10 Tagen wird Ralf seine Doktorarbeit mit der Verteidigung derselben abschliessen. Auch wenn er gerade noch gespannt auf diesen Meilenstein hinarbeitet, hat er ihn in meinen Augen schon längst erreicht. Ralf, ein ehemaliger Profisportler für den stets das Ziel das Ziel war, hat sich den Weg zum Ziel gemacht. Er hat gelernt, den Perfektionisten in sich bei Bedarf abzulegen und so besser für seine eigenen Bedürfnisse und Werte einzustehen. Seine Mutter schrieb mir kürzlich “Für mich ist er derjenige, der sich alles erarbeiten und verstehen kann, der alles mit Bravour meistert und alles mit ganzer Kraft und Begeisterung macht”. Dass er in unseren Augen etwas Richtiges erreicht hat und längst erwachsen ist, scheint also klar; dass er es in 10 Tagen ähnlich sehen wird, ist das, was er sich in den letzten Jahren am härtesten erarbeitet hat.
Ein Liebesbrief anlässlich Ralfs Verteidigung der Doktorarbeit am 25. April 2018